Jolie, sechs Jahre alt, die Geschichte eines Wunders

Jolie, sechs Jahre alt, die Geschichte eines Wunders

schrieb am 17.07.2025

Das Leben von Jolie, einem kleinen Mädchen aus Benin, ändert sich im Alter von zwei Jahren auf tragische Weise. Im August 2020 nimmt sie versehentlich Natronlauge zu sich. Ihre Speiseröhre wird schwer verätzt und nach und nach wird ihr Atemsystem geschädigt. Fast vier Jahre lang überlebt Jolie in ihrem Heimatland. Im Jahr 2022 wird sie bei einem chirurgischen Einsatz entdeckt und mithilfe der Stiftung Fondation Chirurgie pour l’Enfance Africaine (FCEA) in die Schweiz gebracht. Im 2024 kam sie in La Maison an, wo sie ein Jahr lang darum kämpfte, wieder ein normales Leben zu führen, parallel zu ihrer Betreuung im Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV).

Von Sanja Blazevic

Jolie trainiert die am Sprechen und Schlucken beteiligten Muskeln durch spielerische Übungen wie das Pusten von Seifenblasen.
Jolie trainiert die am Sprechen und Schlucken beteiligten Muskeln durch spielerische Übungen wie das Pusten von Seifenblasen.

„Unsere chirurgische Betreuung wäre ohne die Aufnahme in La Maison sinnlos. Nur gemeinsam, dank der Komplementarität unserer jeweiligen Aktionen, können wir diese Kinder retten.“

Céline Vicario, Koordinatorin der humanitären Kommission des CHUV

Eine dramatische Einnahme von Natronlauge

Als jüngstes Kind ihrer Familie wuchs Jolie im Süden Benins auf, umgeben von ihren fünf Geschwistern. Ihre verwitwete Mutter baut Nahrungsmittel an, um die Geschwister zu ernähren. Im August 2020 nimmt Jolie versehentlich Natronlauge zu sich, eine extrem ätzende Substanz. „Die Familien in Afrika kaufen es häufig auf Märkten für die Haushaltsreinigung oder die Seifenherstellung und bewahren es gewöhnlich in Flaschen oder Soda-Dosen auf. Die Kinder werden also das Ätzmittel schlucken, weil sie glauben, ihr süsses Lieblingsgetränk zu trinken“, erklärt der Kinderchirurg Prof. Anthony de Buys Roessingh, der Jolie über die FCEA in die Schweiz gebracht und am CHUV operiert hat.

Innerhalb von Sekunden verwandelte sich diese banale Handlung in eine Tragödie. „Das Schlucken von Natronlauge führt sofort zu einer Entzündung der Speiseröhre und des Magens. Da der Magen durch seinen natürlichen Säuregehalt geschützt ist, kann er sich von diesem Angriff erholen. Die Speiseröhre hingegen hat keine Möglichkeit, sich gegen die ätzende Substanz zu wehren. Die Speiseröhre verengt sich im Laufe der nächsten Tage immer mehr“, erklärt Prof. de Buys Roessingh. „Nach zwei bis drei Wochen kann das Kind in der Regel weder essen noch trinken und spuckt sogar Speichel aus. Es hat dann eine kaustische Stenose der Speiseröhre entwickelt.“

Nach dieser Tragödie begann für Jolie ein langer Behandlungsweg. Zunächst in ihrem Heimatland und dann umgehend nach ihrer Übersiedelung in die Schweiz beanspruchte sie eine Reihe von Konsultationen.


Ein kleines Mädchen, das nach Luft schnappt

Jolie, die mehrere Jahre lang ausschliesslich über eine Gastrostomie-Sonde ernährt wurde, kam im Februar 2024 abgemagert und unterernährt in La Maison an.

Die erste Untersuchung im CHUV zeigt ein schwereres Krankheitsbild als erwartet. Zusätzlich zu ihrer Stenose leidet das kleine Mädchen an einer schweren Ateminsuffizienz. Sie atmet nur mit ihrem linken Lungenflügel, der rechte ist geschädigt. Ihre ohnehin schon ernste Pathologie entwickelt sich zu einem besonders schweren Fall.

„Als ich sie im September 2022 bei einem Einsatz in Benin sah, ging es Jolie trotz des Ausmasses der inneren Verletzungen, die sie durch ihren Unfall erlitten hatte, relativ gut. Später hatte sie leider mehrere Bronchoaspirationen, die ihren rechten Lungenflügel zerstörten“, erklärt Prof. de Buys Roessingh. „Das ist eine potenzielle Komplikation bei Kindern mit Stenose.“


Von einer düsteren Prognose zu einem Wunder

Die Operation von Jolie, die am CHUV von einem multidisziplinären Team, dem auch Prof. de Buys Roessingh angehört, durchgeführt wurde, erwies sich als kompliziert und risikoreich. Die gleichzeitige Schädigung der Speiseröhre und der Lunge erfordert zwei aufeinanderfolgende chirurgische Eingriffe: zuerst die Entfernung des rechten Lungenflügels und dann der Ersatz der Speiseröhre. Ihre Ärzte kämpfen stundenlang, damit das Mädchen wieder richtig atmen, essen und sprechen kann.

„Die Operation einer Speiseröhrenstenose ist ein sehr spezieller Eingriff, den nur wenige Chirurgen auf der Welt beherrschen. In Jolies Fall kamen durch die Entfernung ihres beschädigten rechten Lungenflügels noch potenzielle Komplikationen hinzu.“

Auf die Frage, wie die Zukunft des Mädchens ohne Operation ausgesehen hätte, meint Prof. de Buys Roessingh, dass ihre Lebenserwartung gefährdet gewesen sei. „Es bestand die Gefahr, dass sie wiederholt Bronchoaspirationen bekam und lebensbedrohliche Lungeninfektionen entwickelte.“

Das Pflegeteam von La Maison ist ebenfalls der Meinung, dass Jolies Geschichte einem Wunder nahe kommt. Es ist in der Tat aussergewöhnlich, ein Kind mit zwei so schweren Krankheiten aufzunehmen, das sich nach einer Operation, die mit erheblichen Risiken verbunden war, so erfolgreich erholt.

Jolie wird täglich gepflegt und in der Krankenstation von La Maison aufmerksam und fürsorglich betreut.
Jolie wird täglich gepflegt und in der Krankenstation von La Maison aufmerksam und fürsorglich betreut.
Prof. Anthony de Buys Roessingh, Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie des CHUV und Präsident der FCEA

Interview mit Prof. Anthony de Buys Roessingh, Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie des CHUV und Präsident der FCEA.

Die Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie des CHUV entsendet seit fünfunddreissig Jahren ein Team nach Afrika. Die FCEA wurde vor elf Jahren gegründet, um Geld zu beschaffen und unsere Arbeitsbedingungen vor Ort zu verbessern. Im Jahr 2014 konnten wir im Krankenhaus von Abomey, unserem lokalen Partner in Benin, einen pädiatrischen Operationssaal bauen. Dank dieser Infrastruktur können wir jährlich rund siebzig Kinder operieren und mehr als das Dreifache davon in prä- und postoperativen Konsultationen untersuchen. Genau bei einem dieser Einsätze haben wir Jolie entdeckt.

Kinder wie sie, die besonders komplexe Beeinträchtigungen aufweisen, werden in die Schweiz verlegt und im CHUV operiert. La Maison ist ein unverzichtbares Glied in dieser Behandlungskette, da es für ihre Unterbringung und Betreuung sorgt, insbesondere in Bezug auf die Ernährung bei Ösophagus Stenosen. Die Partnerschaft mit dem erfahrenen Team von La Maison bietet den Kindern, die dort untergebracht sind, eine lebenswichtige Unterstützung..

Nach der Operation muss das Kind wieder lernen zu essen. Diese funktionelle Rehabilitation wird von den Teams von La Maison begleitet und kann sich über mehrere Monate erstrecken, wobei die Dauer je nach Alter und Charakter des Kindes variiert.

La Maison sorgt auch für eine sorgfältige postoperative Überwachung, einschliesslich einer strengen Überwachung der Ernährung des Kindes. Dies ist äusserst wichtig, da eine erneute Stenose eine häufige Komplikation an der Verbindung zwischen der alten und der neuen Speiseröhre darstellt.

Es ist wichtig, immer neue Ideen zu haben und zu versuchen, in unserer Partnerschaft Fortschritte zu machen. Mit der FCEA streben wir die Einrichtung eines modernen Radiologiezentrums in dem Krankenhaus in Benin an, mit dem wir zusammenarbeiten. Derzeit führen wir eine Spendenaktion durch, um einen Computertomographen zu erwerben, von dem mehr als zwei Millionen Menschen im Land profitieren können.

Und das ultimative Projekt unserer Zusammenarbeit ist, dass alle Kinder vor Ort operiert werden können, dass Nationen wie Benin eine vollständige chirurgische Autonomie erlangen. Derzeit müssen komplexe Eingriffe wie Stenosen noch in die Schweiz verlegt werden, vor allem weil es vor Ort keine Intensivstationen gibt, die die postoperative Versorgung sicherstellen könnten.


Wieder essen zu lernen

Eine echte Herausforderung

Nach der Operation erweist sich die Ernährungsumschulung als heikel und anspruchsvoll. Der Schluckmechanismus, den wir im Alltag unbewusst vollziehen, stellt für Jolie eine grosse Herausforderung dar.

Eliane Caloz, Erzieherin bei La Maison, erklärt: „Jede Stenose ist anders. Jolie, die vor ihrer Operation nichts schlucken konnte, hat sich in kleinen Schritten weiterentwickelt. Sie begann damit, die Nahrung zu beobachten, zu riechen und zu berühren, dann tauchte sie ihre Lippen ein, um die Texturen wahrzunehmen und heiss und kalt zu identifizieren.“ Diese Gewöhnung dauert eine Weile, wobei die grösste Herausforderung darin besteht, einen Schluck oder einen Bissen zu schlucken. Robin Hofmann, ebenfalls Erzieher, fügte hinzu: „Für ein Kind mit einer Stenose Operation ist das eine riesige Hürde. Wir schätzen jeden Fortschritt, allein ein Stück in den Mund zu stecken. Der Tag, an dem das Kind endlich schlucken kann, ist wirklich ein Sieg.“

Eine lange Rehabilitation

Dennoch ist die Rehabilitation noch langwierig. „Selbst bei flüssiger oder zerkleinerter Nahrung, die in kleinen Mengen verzehrt wird, erbrechen sich die Kinder anfangs oft. Psychologisch ist das sehr anstrengend. Sie fühlen sich im Vergleich zu anderen als Versager. Um eine positive Beziehung zum Essen zu fördern und ihnen zu helfen, die Freude am Essen wiederzufinden, schlagen wir ihnen daher vor, ihren Lieblingsjoghurt oder ihr Lieblingskompott selbst auszuwählen oder die Zwischenmahlzeit mit uns zuzubereiten.“

Eliane betont auch, wie umfangreich der Prozess ist: „Die Kinder müssen alles lernen. Nicht nur schlucken und essen, sondern auch herausfinden, was sie mögen, das Sättigungsgefühl erkennen und die sozialen Konventionen am Tisch verinnerlichen.“

Im Laufe der Monate macht Jolie grosse Fortschritte bei der oralen Nahrungsaufnahme und der Wiedererlangung einer klaren Stimme. Sie wird wohlwollend begleitet, ein Erzieher oder eine Erzieherin assistiert ihr bei jeder Mahlzeit. Zusätzlich besucht sie regelmässig das CHUV für Kontrollen und logopädische Sitzungen. Jeden Tag macht sie unter Anleitung des Personals von La Maison die vorgeschriebenen Übungen. Sie singt Lieder oder macht Seifenblasen, um die Muskeln zu stärken, die am Sprechen und Schlucken beteiligt sind.

„Die Kinder müssen alles lernen. Nicht nur schlucken und essen, sondern auch herausfinden, was sie mögen, das Sättigungsgefühl erkennen und die sozialen Konventionen bei Tisch verinnerlichen.“

Eliane Caloz, Erzieherin
Jolie nimmt wenige Tage nach ihrer Ankunft im Februar 2024 an einem Knetworkshop in La Maison teil.
Jolie nimmt wenige Tage nach ihrer Ankunft im Februar 2024 an einem Knetworkshop in La Maison teil.
Tag für Tag lernt Jolie in ihrem eigenen Rhythmus zu essen und macht Fortschritte auf dem langen Weg zur Genesung.
Tag für Tag lernt Jolie in ihrem eigenen Rhythmus zu essen und macht Fortschritte auf dem langen Weg zur Genesung.
Céline Vicario, Präsidentin und Koordinatorin der humanitären Kommission, Kommunikationsabteilung, CHUV

Interview mit Céline Vicario, Präsidentin und Koordinatorin der humanitären Kommission, Kommunikationsabteilung, CHUV.

Notre Unsere Zusammenarbeit mit La Maison stellt eine dauerhafte Freundschaft dar, die sich in die humanitäre Tradition des CHUVs einfügt. Dieses Engagement umfasst mehrere von einander abhängige Schwerpunkte: medizinische Missionen im Ausland, die Aufnahme von Praktikanten in Lausanne, um die Weitergabe von Kompetenzen zu fördern, und die Betreuung junger Patienten, die zur lebensrettenden Pflege in die Schweiz verlegt werden. Innerhalb dieses umfassenden Programms, das wirklich 360 Grad auf der internationalen Ebene funktioniert, findet die Partnerschaft mit La Maison ihre Daseinsberechtigung.

Die Kinder kommen allein, krank und entwurzelt in die Schweiz. Sie sind von ihren soziokulturellen Bezugspunkten getrennt. Manchmal stehen sie vor einer Sprachbarriere. In La Maison gewinnen sie Vertrauen und gehen mit mehr Gelassenheit durch die medizinischen Prüfungen. Während der gesamten Genesungsphase profitieren sie von der positiven psychologischen Wirkung der Gruppe, aber auch von strukturierenden Aktivitäten wie dem Schulbesuch. Unsere chirurgische Betreuung wäre ohne die Aufnahme in La Maison, die eine Form von Normalität im Alltag der Kinder aufrechterhält, nicht sinnvoll. Diese wertvolle Partnerschaft ermöglicht es den Teams des CHUVs, sich ausschliesslich auf die medizinische Versorgung zu konzentrieren.

Beim CHUV ist die humanitäre Hilfe eine Tradition, die in unserer täglichen Praxis stark verankert ist. Die Betreuung der Kinder von La Maison ist im Service de la Direction générale de la santé de l’État de Vaud registriert. Es handelt sich um eine Leistung von allgemeinem Interesse, die Teil des Gesundheitsarsenals des Kantons ist.

Über diesen institutionellen Rahmen hinaus beruht der Fortbestand dieses Engagements auf den menschlichen Beziehungen, die sich zwischen Fachkräften aus verschiedenen Ländern entwickeln. Hinter den Einsätzen stehen ein echter Erfahrungsaustausch und bereichernde Begegnungen.

Die in die Schweiz verlegten Kinder befinden sich in der Regel in einer kritischen medizinischen Situation, haben eine begrenzte Lebenserwartung und keine Möglichkeit, in ihrem Land operiert zu werden. Meine Hoffnung ist, dass sie nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat eine gute Lebensqualität geniessen können. Dass sie wieder wie andere Kinder spielen können, zur Schule gehen können und einfach wieder in eine bessere Zukunft blicken können.

La Maison zu unterstützen bedeutet, kleinen Patienten und Patientinnen Hoffnung zu geben, die in ihren Ländern leider keine Lösung für die medizinische Notlage haben. Es bedeutet auch, ihren Familien Hoffnung zu geben, die indirekt von der Krankheit betroffen sind und oft mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

Allein im CHUV werden jedes Jahr vierzig bis sechzig Kinder aus La Maison operiert. Zusammen mit den in Genf durchgeführten Operationen trägt dieses humanitäre Programm, an dem La Maison beteiligt ist, dazu bei, viele Leben zu verändern. Ohne La Maison gäbe es dieses Programm nicht mehr. Das CHUV, das Universitätsspital Genf oder La Maison allein könnten nichts tun. Nur gemeinsam, dank der Komplementarität unserer jeweiligen Aktionen, können wir diese Kinder retten.


Eine zweite Chance auf Leben

Nach fast einem Jahr in La Maison hat sich Jolies Schicksal gewandelt. Sie kann sich nun normal ernähren. „Ich mag Hühnchen, Fisch, Pommes frites, Reis, Couscous und Karotten“, zählt sie auf, wenn man sie fragt, was sie am liebsten isst.

Diese bemerkenswerte Entwicklung zeugt von ihrer Widerstandsfähigkeit gegenüber den Prüfungen, die sie durchlebt hat. „Jolie ist ein liebenswertes kleines Mädchen, sehr wissbegierig und voller Energie“, sagt Robin. „Sie hat eine unglaubliche Charakterstärke. Während ihres Aufenthalts hat sie sich nie über ihre Krankheit beklagt und war immer sehr lächelnd.“

Das Mädchen wird im Februar 2025 nach Benin zurückkehren. Dort wird sie von unserem Partner FCEA medizinisch betreut. Am Tag vor ihrer Abreise erinnert sie sich an ihre Freundinnen aus La Maison, Charlotte, Segla, Hannata und Rabaatou, die sie vermissen wird. Sie erwähnt die vergänglichen Tätowierungen, die sie in Massongex entdeckt hat, und die Schaukel, die sie so sehr liebt. Vor allem aber erhellt sich ihr Gesicht und ihre Augen leuchten, als sie mit einem strahlenden Lächeln ihre Freude darüber ausdrückt, dass sie endlich wieder mit ihrer Mutter vereint sein wird.

Ihre finanzielle Unterstützung ist entscheidend für das Leben und Überleben der Kinder, die in La Maison betreut werden. Sie ermöglicht es uns, schwerkranken Kindern, die wie Jolie eine lebensrettende Behandlung benötigen, die zu Hause nicht verfügbar ist, weiterhin eine Zukunft zu bieten.